Not lehrt Beten!?

 

Sobald die Kinder  ihre Schulzeit beendet oder die Berufsausbildung abgeschlossen haben, ziehen sie aus in eine eigene Wohnung, in eine andere Stadt im In- oder Ausland. Weil sie sich zunächst an ihre neue Umgebung gewöhnen, sich einleben müssen, melden sie sich Zuhause nur gelegentlich und sporadisch. Manchmal dauert es Wochen und Monate, bis sie zu ihren Eltern und Freunden erneut Kontakt aufnehmen. Diese gewöhnen sich an die Erfahrung, dass es ihnen in der Fremde wohl gut gehen muss. Sonst würde man von ihnen mehr Nachrichten bekommen. Das ändert sich, wenn es den "Ausgewanderten" schlecht geht, wenn sie etwas brauchen, wenn die vergessenen Angehörigen ihnen eine Hilfe sein könnten. Wir Menschen sind seltsame Wesen. Wir verhalten uns in religiösen Angelegenheiten ähnlich, auch gegenüber Gott. Vielleicht sind wir auch dazu erzogen worden: Religion hat etwas mit Unerlöstheit und Erlösung zu tun. Sie gehört in die Kirche, z.B. am Sonntagmorgen. Sie ist konzentriert auf (Heils)Sakramente, verwaltet von der alles bestimmenden Geistlichkeit. Weil außerhalb der Kirche kein Heil ist, herrscht außerhalb von ihr Gottvergessenheit. Diese macht sich im Leben umso breiter, je besser es einem geht. Die Wohlstandskinder, lebend in einer Spaßgesellschaft, verlieren unbemerkt und unauffällig das religiöse Bewusstsein und die Gewissensverantwortung vor Gott: Sie legen auf die unnütze Religion keinen besonderen Wert, zählen sich oft zu den Ungläubigen, Agnostikern oder Atheisten. Vielfach nichts anderes als Indizien für ihre Probleme mit der Institution Kirche. Das ändert sich in Erfahrungen von Grenzsituationen! In Zeiten der Not, der Krankheit, der Krisen und Lebenskatastrophen fangen viele wieder an zu denken: Über Gott und den Sinn des menschlichen Lebens; über das Danach nach dem Tode. Sie bringen es urplötzlich wieder fertig, sich betend an Gott zu wenden. Dabei spielt keine Rolle, ob Gott überhaupt da ist, ob es ihn gibt? Entscheidend ist, dass sie einen Strohhalm gefunden haben, der noch Hoffnung gibt – einen Gott oder etwas Göttliches. Diese vermögen noch zu retten und zu helfen, nachdem alles Menschenmögliche aufgehört hat, sich als Hilfe zu erweisen. Dennoch: Die Wiederentdeckung des Religiösen bedeutet keine Rückkehr zur Kirche!

Vielleicht sind Grenzsituationen die besten Zeiten, in denen existentiell die nachhaltigste Bekehrung oder Gottesbegegnung stattfindet. Darin erlebt sich der Mensch als arm, schwach, hilfsbedürftig. In solchen Situationen vermag er Gott als Heiland, als Retter und Erlöser zu akzeptieren, zumal ihm im Gebet Kraft und Stärke, Trost und Hoffnung zuzuströmen scheint. Die Entdeckung Gottes als Helfer und Erlöser entspricht dem Gott des Christentums, der sich als einer offenbart hat, der heilt, erlöst, in eine neue Freiheit führt. Solche religiöse Entdeckung gibt es nicht nur bei Getauften und Gefirmten, sondern auch im Hinduismus, Buddhismus und Islam, ebenso in den Naturreligionen. Hineingeschaut in die Geschichte der Religionen, kann man nicht anders als den Eindruck gewinnen, als habe Gott, der Schöpfer aller Dinge und Ursprung allen Lebens, ein geheimnisvolles Abkommen mit der gesamten Schöpfung geschlossen. Denn er lässt sich überall finden. In allen Kulturen haben sich immer wieder Menschen auf den Weg gemacht, um herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammen hält. Stellvertretend für alle haben Fragende und Suchende dafür gesorgt, dass möglichst viele religiös Fragende und Suchende bleiben.

Dieser Drang hat in den verschiedenen Religionen ihren Niederschlag gefunden.
Die Kirchen tun sich schwer mit religiös Gewordenem außerhalb von ihnen. Für sie ist das Christentum als Offenbarungsreligion von nicht vergleichbarer Bedeutung. Von Anfang an haben sich berufene und selbsternannte Nachfolger der Apostel für dessen Interpretation und Ausbreitung für zuständig erklärt. Sie tun so, als wäre die Offenbarung an sie ergangen; sie wissen sich als Leiter und Lenker des neuen auserwählten Volkes. Deshalb sehen sie ihren Auftrag darin, die Welt nach ihrem Glaubensverständnis zu missionieren, kanalisieren, organisieren, sakramentalisieren und theologisch-akademisch zu interpretieren. Seit Christus und den Aposteln haben sie sogar einen Staat, eine religiöse Monarchie entstehen lassen. Im Namen Gottes (?) wurde aus ursprünglicher religiöser Dynamik eine verwaltete Religion, die von einer akademischen Theologie, von Gesetzen und ewigen Wahrheiten bestimmt wird. Was gesellschaftlich schon immer eine fatale Rolle spielte, wurde übernommen. Auch in der Kirche gibt es verschiedene Sorten von Menschen: Die Großen und die Kleinen, die Gebildeten und Ungebildeten, die Buchstaben-Gläubigen und die Ungläubigen, die Klugen und Unmündigen, die von Gott Berufenen und die religiös unkompetenten Laien bzw. das stets zu belehrende Volk. Die Menschen werden je nach ihrer Nähe oder Ferne zur Gnadenanstalt Kirche gemessen und beurteilt; ebenso nach ihrer Bildung in Philosophie und Theologie.
Vieles, was traditionell in den Kirchen geworden ist; als Nachahmung gesellschaftlicher Bedingtheiten; mag seine Berechtigung haben, mag auch, wie behauptet, "Gott-gewollt" sein. Aber so genau weiß es eigentlich niemand. Wenn sich dann aber geschichtliche Ereignisse zeigen, die auf Wandel und Erneuerung aus sind, herrschen Ungewissheit und Klagen über das Verlorene. Während die Institution alles tut, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist, fühlt sich der Einzelne verlassen und auf sich selbst gestellt. Was in der Krise dem Untergang geweiht ist, ruft den Einzelnen auf zu der Frage: Herr, was willst du, das wir tun sollen? Denn das Frühere mag für die vergangenen Zeiten gut gewesen sein; aber es hat aufgehört, gut zu sein.
Ein neues Phänomen scheint immer mehr beherrschend zu werden. Aus welchen geschichtlichen Gründen auch immer, informierte Menschen hören auf, an die unfehlbare Kompetenz und Herrschaft von Obrigkeiten zu glauben. Oder an deren religiöse Angebote. Scharenweise verlassen sie die Parteien, die Gewerkschaften, die Verbände und die Kirchen. Besonders die Großkirchen sind betroffen. Braucht man sie nicht mehr? Ist die Zeit der Kirchen abgelaufen? Wenn dies so sein sollte – der Mensch ist und bleibt ein Fragender, ein Suchender. Antworten findet er überall: Früher in der Kirche; heute bei exemplarischen Menschen und Vorbildern, bei Freunden, Bekannten, Verwandten. Von Büchern, Schriften und Medien kann er sich reichlich inspirieren lassen. Sie helfen ihm, seinen eigenen religiösen Weg zu gehen und das ohne Dirigismus und vorgefertigte Antworten.

Die religiöse Individualisierung läuft zunächst auf die Tendenzen Religion ist Privatsache und Eigenständigkeit auch im Religiösen hinaus. Dabei bleibt der Einzelne dennoch in einem sozialen Gefüge mit anderen lebendig. Selbsthilfegruppen und Basisgruppen scheinen immer mehr jene Größen zu werden, in denen christliche Werte lebendig gehalten werden. Denn in allen Lebenslagen pflegt der Mensch immer Kontakte und Beziehungen, in denen man miteinander reden und Gemeinschaft pflegen kann. So ist die Zeit des werdenden und wachsenden Reiches Gottes wieder gekommen. Es wächst und gedeiht kaum in anonymen Massenaufmärschen, in religiösen Events, sondern immer dann, wenn Menschen sich in Freiheit und Mündigkeit zusammentun, um in seinem Namen die Wege Gottes zu erforschen.

Die Chance auf Zukunft hin besteht darin, dass das Christentum wieder das wird, wofür es angetreten ist: Nämlich Sauerteig und Salz der Erde zu sein. Es geht um die Fortsetzung der heilsamen Worte und Taten Jesu in der Welt und Geschichte! Wie es sich von Anfang an gezeigt hat: Die Großen und Mächtigen sind dazu weniger fähig und bereit als die Fischer, die Sünder und Ausgestoßenen, die Handwerker und Kinder, also Menschen mit Lebens- und Welterfahrung. In Basisgemeinschaften bekommen sie wieder die Chance, einen eigen verantworten Weg zu gehen: Durch ihre Sorgen, Ängste und Hoffnungen hindurch zu dem hin, der aller Menschen Leben ist.