Leere Predigtblasen

 

Die Aufforderung der Kirche, dass jeder Christ "seinen Glauben weiterzugeben habe", erweist sich in der Realität als Sprechblase, solange nicht in Gemeinschaft über zentrale Fragen des Glaubens gesprochen wird, solange sie nicht ins Persönliche aufgearbeitet worden sind. Weil dies weitgehend nicht geschieht, schwindet der Glaube. Die Lehramts-Kirche mit ihrem theologischen Vor-Wissen ist in hohem Maße Schuld an dieser Misere. Denn man kann über den vorgefertigten Glauben nicht diskutieren; man kann keine eigenen Einsichten haben, man darf nichts anderes denken und meinen als was die Kirche lehrt. So funktioniert das Glaubensgespräch nicht: weder unter Gleichgesinnten, noch viel weniger mit den Schwestern und Brüdern des Islam, des Judentums und den Atheisten.

Kürzlich habe ich mich in einen Gottesdienst in Wien gesetzt, um die Predigt zu hören. Sie war gut und ansprechend. Über die Caritas wurde gesprochen. Ungefähr 20 Minuten über Jesus und sein Tun. Er wurde dargestellt als ein Eiferer, der sich um Arme, Kranke, Zurückgebliebene, Ausgestoßene aus einer normalen Gesellschaft kümmerte, der sich der Schwachen und Bedeutungslosen annahm. Nichts anderes tue die Caritas. Sie folge exakt dem Beispiel Jesu. Während der Predigt wurde immer wieder der Wunsch geäußert, dass sich doch mehr Gläubige aus der Gemeinde bereit erklären mögen, sich am Tun der Caritas zu beteiligen. Denn das Christsein bestehe wesentlich aus Taten der Liebe und Anteilnahme. Wie Jesus und die Caritas – so müssten alle wahrhaft Gläubigen werden. Soweit die Aussagen dieser Predigt.

Aus den Reihen der Zuhörer, die Kirche war zur Hälfte besetzt, war kaum eine Reaktion zu vernehmen. Nach der Predigt ging der Gottesdienst mit Gebeten und Gesängen normal und wie gewohnt weiter. Auch nach dem Gottesdienst war weit und breit nicht zu sehen, dass ein Gespräch stattfand. Auch bei mir selbst hat sich keinerlei Motivation im Sinne der Predigt eingestellt. Warum bei mir nicht? Warum nicht bei den anderen? – außer dass vielleicht ein paar Almosen mehr im Spendenkörbel landeten!

Zwei Vermutungen liegen nahe. Sie können Antworten auf die Frage geben, warum so viele Worte und Predigten im Niemandsland enden:
Die erste Vermutung könnte sein: Mit Jesus als dem "Eiferer" für die Bedürftigen und dem unantastbaren "Idealisten" können viele in der heutigen Zeit nichts mehr anfangen. Meine Erfahrung mit mir selbst sagte mir: wenn einer eifert, aus welchen Gründen auch immer, soll er es tun. Ich möchte nicht dauernd nervig und unruhig auf alles schauen, was mich zur Aktivität antreibt. Die Welt retten kann ich nicht. Ich kann nur meinen täglichen Aufgaben und Verpflichtungen in der Schule und Gemeinde nachkommen. Jeder Alltag hat seine Plagen. Damit habe ich eigentlich genug zu tun.
Die zweite Vermutung: Mit den guten Taten der Caritas konnte ich mich auch nicht leicht identifizieren. Es wurde ständig von den Leuten der "Berufscaritas" gesprochen.  Kein Wort wurde verloren über die anwesenden Zuhörer, die auf andere Weise "caritativ" tätig sind, indem sie die Alten und Kranken oft unter größten privaten Opfern  in ihren eigenen Familien pflegen; indem sie sich um Nachbarn kümmern; indem sie verantwortlich für ihre Kinder und andere da sind. Dabei haben sie sicher ihre eigenen Gedanken, ihre eigene Sprache. Sie schöpfen daraus ihre eigenen "Gotteserfahrungen", weil sie sich im Tun identisch wissen mit Christus.

Wo eine institutionelle Caritas nur über sich selbst redet und wirbt, die anderen aber draußen lässt, können sich viele mit ihr nicht identifizieren. Vielleicht ist dies das Elend unserer schönen und ansprechenden Predigten: Der Prediger redet nicht über sich selbst, sondern über das, was er theologisch studiert hat. Er redet über den „Ist-Stand“ der Theologie und der kirchlichen Lehre, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass die Kirche in früheren Zeiten schon Anderes gelehrt hat; dass andere Überzeugungen durchaus auch legitim sind, weil Gottes Tun und Wirken durch keinen Katechismus adäquat zur Sprache gebracht werden kann.

Der Drang und die Gewohnheit, den Leuten religiöse "Angebote" zu machen, sie aus dem sicheren Elfenbeinturm einer Lehre stets belehren zu wollen, erweist sich in der Realität als eine Sackgasse. Sie erweckt den Eindruck, als gäbe es bei den einen eine unantastbare Gottesgewissheit – bei den anderen aber nicht. "Gläubige" stehen den weniger Gläubigen gegenüber. In Wirklichkeit ist jede Lehre über Gott voller Ungewissheit, voller Zweifel. Denn Gott entzieht sich jeder Lehre und Konfession, die allzu oft darauf bedacht sind, Gott zu beweisen, für sich zu vereinnahmen und ein Gottesbild nach Menschenart zu schaffen. Vielleicht wird viel zu viel über den "unbekannten Gott", den niemand kennt, geredet, statt über den Menschensohn Jesus, der im Auftrag Gottes gottgemäß an den Menschen und in der Welt gewirkt hat, der uns ein Beispiel gegeben hat, wie die neue Lebensordnung Gottes für möglichst viele lebbar wird.

In der Apostelgeschichte heißt es: "In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art". Ein solches Denken erinnert an das Leben der Fische im Wasser. Auch sie könnten den Ansatz ihrer Lebensbestimmung ähnlich zur Sprache bringen: Im Wasser leben wir, bewegen wir uns und sind wir.  Der heilige Paulus formuliert die Bestimmung des Menschen auf ähnliche Weise: "Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen. Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt..." (1Kor 12.4-7).

Hinter solchen Gedanken steht die Aufgabe der Selbstvergewisserung, die jeder Mensch leisten muss, damit er zu seiner persönlichen Offenbarung findet und anderen zu nützen vermag. Das Grundproblem christlicher Konfessionen besteht in der Eingrenzung und daraus resultierender Festdefinition Gottes durch "gefundene Wahrheit" in Dogmen und festen Glaubenssätzen. Diese verhindern im eigentlichen Sinne das Wirken Gottes "in allen". Deren Schreiber und Festleger leben mit der oft ungewollten, aber arroganten Behauptung, dass Gott ihnen (allein) Offenbarungen geschenkt hat, die es als  eine frohe Botschaft anderen zu verkünden gilt. In Wirklichkeit werden auch sie nur von dem einen Geist bewegt, indem sie wie alle Gläubigen Früchte des Geistes hervorzubringen haben. Für alle gilt im gleichen Maße: "Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen" (Mt 7.19-20).
Dass diese "Früchte" nicht ausschließlich aus schönen Worten und anziehenden Predigten bestehen, wird auch gesagt: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt" (Mt 7. 21).

 

Mit diesen kritischen Gedanken zur Glaubensweitergabe und der Frage nach unseren Glaubensfrüchten, wünsche ich Ihnen eine gute und nachdenkliche Fastenzeit.