Anspruch und Wirklichkeit?!

 

Das Bild vom Innen und Außen ist dem Evangelium nicht fern. Der Evangelist Matthäus legt Jesus schwere Vorwürfe gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten in den Mund: „Sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen" (Math. 23 ff.). – „Sie legen den Menschen schwere Lasten auf, wollen selbst aber keinen Finger rühren". – „Und wenn sie mal etwas tun, tun sie es nur, damit die Menschen sie sehen". – „Bei jedem Festmahl möchten sie den Ehrenplatz und in der Synagoge die vordersten Sitze haben; auf den Straßen und Plätzen lassen sie sich gern grüßen und von den Leuten Rabbi (Meister) nennen". – „Ihr Heuchler... Ihr seid wie Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung".

Man kann sich kaum vorstellen, dass Jesus solche harten Urteile im Mund geführt haben könnte. Aber der Evangelist legt großen Wert darauf, dass das alles mit dem Leben und Tun Jesu in Einklang steht. Offensichtlich soll hiermit betont werden, dass es allgemein mit uns Menschen etwas zu tun hat: Mit Bereichen und Schichten des Unglaubens im Menschen trotz Glaubensbekenntnis. Demnach hat Vieles, was wir tun und treiben, mit dem Glauben, mit der Botschaft Jesu nichts zu tun! Es scheint sogar unvereinbar mit dem Glauben.
Zunächst scheint die Tatsache angebracht, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten nicht so schlimm waren, wie sie dargestellt werden. Sie gehörten zur religiösen und politischen Elite der damaligen Zeit. Ihr vehementes Anliegen war es, dass das Gesetz Mose mit allen Einzelbestimmungen eingehalten und befolgt wurde. Ihnen ging es um den Erhalt des Glaubens, der auch damals genügend gefährdet schien und in den Alltäglichkeiten des Lebens unterzugehen drohte. Andererseits zeigten sich bei ihnen Verhaltensweisen wie Macht, Überlegenheit, Arroganz, egoistische Ambitionen, die mit dem Mantel des Religiösen überdeckt waren. Sie erweckten den Eindruck des Glaubens, lebten zugleich Bereiche des Unglaubens und des "Heidentums". Der Evangelist Matthäus hat in seiner Zeit bereits das Missverhältnis zwischen Innen und Außen, zwischen Anspruch und Wirklichkeit zur Sprache gebracht. Heute stehen ähnliche Missverhältnisse am Pranger, wenn man bereit ist, das bürgerliche Christentum mit seinem Wohnzimmerglauben näher zu durchleuchten oder der frohen Botschaft das Anstrengende bzw. das Kreuz zu nehmen, ohne die das eigentlich Tragisch-Menschliche und Christliche nicht zum Tragen kommt.

In der Jetztzeit der gegenwärtigen Krise scheint es ein Zeichen der Vorsehung Gottes zu sein, dass ein Papst mit dem Namen Franziskus seine Finger auf die Wunden der kranken Kirche legt. Nach dem Beispiel des Hl. Franziskus aus dem 13. Jahrhundert, der seinem Vater Geld, Reichtum und Erbe vor die Füße warf, weil für ihn unvereinbar mit der Nachfolge Christi, hat er es nach seiner Wahl zum Papst abgelehnt, sich in einer Staatskarosserie chauffieren zu lassen. Er ist nicht in den Vatikanischen Palast eingezogen, sondern in das Gästehaus des Vatikans. Am Gründonnerstag hat er nicht ehrenwerten Bürgern und verdienten Zeitgenossen die Füße gewaschen, sondern Frauen und Männern im Gefängnis, also Gescheiterten, Bestraften und Ausgestoßenen. Während eines aufwendig angelegten großen Konzertes zum Jahr des Glaubens ist sein Stuhl leer geblieben. Der leere Stuhl bot einen seltsamen Eindruck mitten in den geschlossenen Reihen der auserwählten Herrschaften mit ihren roten und violetten Festtagsgewändern, und dazu das Bild mit den unzähligen Klerikern und Nonnen, die die Konzertaula bevölkerten. Was Papst Franziskus auch immer noch machen wird – mit dem leeren Stuhl wie mit anderen Verhaltensweisen hat er Zeichen gesetzt in Richtung einer Kirche, die es mit der Nachfolge Christ ernst meint.
Franziskus, der von Events und religiösen Massenveranstaltungen nicht viel hält, spricht von der egozentrischen und mondänen Kirche, die schon deshalb krank ist, weil sie für sich selbst lebt und um sich selbst kreist. Er prangert ihren theologischen Narzissmus und ihre klerikale Eitelkeit an, der der Geruch der Schafe abhanden gekommen ist. In spiritueller Verrücktheit sei die Entschlackung des Vatikanischen Zeremoniells und der Rückzug der barocken Prachtentfaltung nötig. Er warnt vor kirchlichem Karrierismus ebenso, wie er das bequeme Wohnzimmerchristentum kritisiert. Für ihn geht es nicht darum, den heutigen Menschen ein Wohlfühlchristentum zu verkünden, sondern eine nicht bequeme Botschaft, die die vielen zu bewältigenden Aufgaben des Einzelnen wie auch die der Welt im Blick behält. Es geht um die Bereitschaft der Christen zu heilen, was heillos ist; aufzurichten, was im Argen liegt; zu erlösen, was unerlöst ist! Der Mensch und die Welt machen in ihrem Ist-Zustand die Mobilisierung aller Kräfte des Guten erforderlich. So kann der Papst Gläubige im Anschluss an einen Gottesdienst mit den Worten entlassen: „Verkündet das Evangelium; wenn es sein muss: auch mit Worten!".  In seinen Ansprachen beim Weltjugendttag in Brasilien an die fast drei Millionen Jugendlichen aus der ganzen Welt, kommt der Papst immer auf diesen Anspruch zurück: Verkündet das Evangelium in der Nachfolge Jesu, mischt euch ein wo Ungerechtigkeit herrscht, macht einen Wirbel!

 An erster Stelle also mit Taten! Im Tun dessen, was wahr, gut und heilsam ist, werden Verbalismen überflüssig und Sonntagsreden, trotz aller Feierlichkeit, hohl und leer. Im Tun der Wahrheit kommt der Mensch zum Licht (Joh. 3,21). Zwar geht das Denken und Beurteilen einer Sache dem Tun voraus. Aber das Tun bewirkt neue Impulse zum Denken, motiviert oder demotiviert. Im Tun erfährt der Handelnde seine eigene Würde: Er lernt sich selbst kennen, seine beschämenden Schwächen, seine wachsenden Kräfte und Fähigkeiten. Er lernt realistisch einzuschätzen, was er selbst wert ist. Es fällt auf ihn zurück, was er vor anderen gewirkt hat.

Im Tun der Wahrheit findet ein Zusammenspiel statt zwischen göttlichem und menschlichem Wirken. Der Widerspruch wird überwunden zwischen Innen und Außen, zwischen Rede und Gegenrede, zwischen Zeitlichem und Ewigem, zwischen Profanem und Sakralem. Indem der Mensch geistige und materielle Güter zu teilen, mitzuteilen und zu kommunizieren vermag, fängt er an zu besitzen, als wäre er nicht Eigentümer. Weil die Gestalt dieser Welt vergeht, macht er sie sich zunutze, als nutze er sie nicht. (1 Kor 7,28-31). Im Bewusstsein, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht erben (1 Kor 15.50), bleibt der Gläubige zurück, der nichts hat und doch alles besitzt (2 Kor 6, 10). Im Mut zu Taten hat das Ewig-Bleibende schon seinen Anfang genommen.

Im christlichen Leben geht es also nicht einfach um das Einhalten von Geboten und Vorschriften, sondern darum, dass wir uns in den Erfahrungen des Lebens hinabfallen lassen, durch alle Stufen des Seins, bis auf den Grund der Dinge. Auf dem Grund aller Dinge wohnt Gott, so sagen die großen Mystiker. Da findet auch der Mensch sein Zuhause und den Zugang zu seinem eigenen Wesen.

Mi diesen Gedanken wünsche ich allen einen guten Einstig ins neue Arbeitsjahr!