Glauben in alltäglichen Banalitäten des Lebens?

           

Was ist ein "gläubiger Mensch"? Der nach kirchlicher Vorstellung den Religionsunterricht besucht hat; der regelmäßig betet und die Sakramente empfängt; der die Eucharistie als das Wichtigste im Leben ansieht und das damit verbundene Amt anerkennt; der sich evtl. noch am Sonntagmorgen mit Gleichgesinnten trifft und mit ihnen plaudert; der sich so oder so in der Pfarrgemeinde engagiert...

Da deren Zahl immer mehr abnimmt, stellt sich die Frage nach den Aktivitäten derer, die nicht oder weniger als früher "Kirche" und "lebendige Gemeinde" im Blickfeld haben. Was ist mit dem Werktag und den vielen "banalen Kleinigkeiten", von denen das Leben im Allgemeinen bestimmt wird, die den großen Teil des Lebens ausmachen?

Da sind die Verheirateten mit ihren Beziehungsproblemen; die Lehrer und Erzieher von Kindern und pubertierenden Jugendlichen; die Berufstätigen in Fabriken, Geschäften, Kanzleien, Büros, Krankenhäusern und Sozialstationen... Was sich im Zusammenleben und in der Zusammenarbeit unter ihnen abspielt, ist oft nicht lauter Sonnenschein. Es sind Existenzkämpfe und –ängste, Selbstbehauptung und Rivalitäten, Eifersucht und vielfältiges Gegeneinander, Vorurteile, Verdächtigungen und Mobbing, die den Alltag bestimmen – je nach dem, wie die "Chemie" unter den Beteiligten stimmt oder auch nicht stimmt.

Was sich zwischen den gelegentlichen "religiös-kirchlichen Ereignissen" innerhalb einer Woche abspielt, ist enorm vielfältig: Harmonisch oder spannungsgeladen. Was hat das alles mit "Glauben" zu tun? Herkömmlich nichts. Es spielt sich ja nicht in der Kirche ab. Man hat sich damit weitgehend zufrieden gegeben, zu predigen, das Evangelium auszulegen, je nach Bedarf von einem gütigen, gerechten, strafenden, verzeihenden oder liebenden Gott zu reden... - neuerdings wieder vermehrt im Sinne einer "negativen Theologie", die vorsichtig ist mit dem Reden über Gott und sein Handeln.

Weil das Reden über Gott nicht unproblematisch ist, verlassen sich viele auf eine Art Wellness-Religion, auf einen gefühlsüberladenen "Glauben", der nur kurz und vorübergehend die banalen Dinge des Alltags vergessen macht.

Die plausibelste Antwort auf obige Frage hat bisher immer noch die Bibel gegeben. Dieses "Buch der Bücher" spielt keine himmlischen und ekstatischen Schalmeien. Jesus konfrontiert die damaligen Menschen mit ganz konkreten "banalen" Lebenssituationen.
Was Jesus in all diesen Situationen tut oder zu tun lehrt, ist eigentlich nichts anderes als was man heute "humane Verhaltensweisen" nennt. "Humanes Verhalten" bei Gläubigen wie Ungläubigen – wieso sind da noch Kirche und Glaube nötig? Warum noch Taufe und Sakramente, zumal Gläubige und Ungläubige zu denselben Taten fähig sind? Sind gläubige Christen in ihrem caritativen und sozialen Verhalten besser als Ungläubige? Auch dann, wenn feststeht, dass die Zahl der Konfessionslosen wächst, die sich in vielen Bereichen der Weltgesundheit, der Entwicklungshilfe, der sozialen Verpflichtungen engagieren – ganz abgesehen von den weltweit Hunderten, die bei Katastrophen unter Einsatz ihres Lebens gleich zur Stelle sind?
Die kirchen- und konfessionslos Engagierten verunsichern gegenwärtig die religiös Bekennenden. Denn für viel Gutes, was geschieht, ist "Glaube" kaum noch gefragt bzw. erforderlich. Jedenfalls kein dogmatischer oder amtlich festgelegter Glaube.
Der Unterschied zwischen einem Gläubigen und Ungläubigen zeigt sich meistens nicht in äußeren Taten. Er besteht darin, dass der eine auf einen größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang vertraut und sich darin selbst aufgehoben weiß. Der Glaubende bekommt einen anderen Blick, eine neue Sichtweise für alles, was lebt und sich bewegt. Für ihn ist "Glaube" keine Einsicht jenseits allen menschlichen Wissens, sondern eher ein Hoffen, ein Erwarten, ein Sehnen nach etwas ganz Anderem. Es liegt jenseits aller menschlichen Möglichkeiten. Es ist das Unmögliche des Baumeisters, was der "kleine Mann" nur zu erahnen vermag.
So ist es zu erklären, dass Jesus die Menschen von damals mit konkreten Lebenssituationen konfrontiert. Sie wiederholen sich bis heute jeden Tag. Dabei kommt es nicht darauf an, wer jemand ist, woher er kommt und welche Positionen er einnimmt. Entscheidend ist nur, wie jemand sich in einer bestimmten Situation verhält. In einer vielfach verkorksten Welt kann jeder zum Segen oder Unsegen werden. Er vermag heilend oder zerstörend tätig zu sein. Er kann Gott oder dem Teufel dienen – unabhängig von Religion, Weltanschauung, Rasse und Kultur.
Wie es dem Baumeister einer Kathedrale um eine "Vision" geht, die vielleicht in Jahrhunderten erst in Erfüllung geht, so gleicht die Welt als Gottes Schöpfung einem großen Bauwerk, an dem Generationen bauen. Dabei geht es nicht um eine Welt der vielen Worte ohne besonderen Inhalt. Es geht um heilsame oder heillose Taten, die die Welt zu retten oder zu verwüsten vermögen.
Wenn es stimmt, dass das Wirkfeld Gottes die Welt ist, dann erklärt sich auch das Elend der Kirchen in der gegenwärtigen Umbruchsituation. Es besteht darin, dass die Verantwortlichen schon sehr früh damit begonnen haben, das Prophetische der "kleinen Leute" mit ihren Lebenserfahrungen und -erwartungen zu übersehen und gering zu schätzen. Stattdessen haben sie auf die Nachfolge griechischer Philosophen gesetzt und – auf hohem akademischen Niveau – "theologisiert", um aus einer Christusbewegung eine "Spezialistenreligion" zu machen, deren Sprache nur Fachleute noch verstehen.
Sie haben "sakramentalisiert" in Nachahmung heidnischer Initiationsriten, die zwar dem Bedürfnis von Menschen nach äußeren Zeichen und Riten entgegenkommen, aber auch Aberglaube, Magie und Fetischismus fördern. - Sie haben, das Konkrete des Lebens vernachlässigend, alles "übernatürlich erhöht", um es hierarchisch-klerikal zu verwalten. Sie haben den "normalen" Menschen ihre Rolle, ihre Mitarbeit am Heilsgeschehen Gottes in der Welt verweigert. Deshalb ist es wahr, was Papst Johannes Paul I. sagt: Die Menschen verlassen die Kirche, weil die Kirche sie zuerst verlassen hat.
Die Kirchen stehen gegenwärtig erst am Anfang einer äußeren Emigration. Die innere hat längst viel weitere Ausmaße angenommen, wie es jüngst eine demoskopische Untersuchung wieder deutlich gesagt hat. Einige hundert junge getaufte Erwachsene wurden gefragt, welchem "höchsten Wert" sie für ihr Leben Bedeutung beimessen würden. 46% hatten keine Antwort; von den 48% Antworten gaben 25% "persönliche Freiheit" an; 11% "Familie und Freundschaft"; 6% "Heimat"; 4% "Frieden"; 2% religiösen Glauben...