Bildung und Selbstverwirklichung

 

Die seit geraumer Zeit die Öffentlichkeit aufscheuchenden Pisa-Studien haben auf eine dramatische Weise die Problematik der Erziehung und Bildung in unseren Schulen und Gesellschaften deutlich gemacht. Man könnte die vielfach beschriebene Misere auf die Formel bringen: Ganze Generationen Heranwachsender werden mit Wissen und Fachkenntnissen konfrontiert. Sie werden "funktionstüchtig" gemacht für ihr späteres Leben im politischen,  wirtschaftlichen, finanziellen Gewerbe. Kirchlich-religiös werden sie in geistig-ideologische Systeme hinein erzogen.
Was bei allen diesen Maßnahmen auf der Strecke bleibt, ist die Entfaltung des Menschen, des eigentlichen "Humanum". Deshalb so viel Frustration, Null-Bock-Reaktion, Ablehnung, Aggressivität und Gewaltpotential schon in jungen Jahren.

 

Eigentlich handelt es sich hier um zwei Themen und Anliegen: Um Selbstverwirklichung  und Bildung. Ersteres ist schon schwierig genug. Das Wort Selbstverwirklichung  ist heute in aller Munde: Es ist sozusagen das Markenzeichen für den Wert und die Würde des Menschen überhaupt. Oft gilt es auch als Schlüsselwort für die Lösung aller Rätsel und Probleme des Lebens. Erfahrungsgemäß erweist sich dieses Zauberwort in seiner Verwirklichung als ein steiler Weg. Denn Selbstverwirklichung  kann man nicht machen, nicht produzieren, sich nicht einreden oder gar einbilden. Selbstverwirklichung muss verstanden werden als ein lebenslanges Lernen. Es ist eine Aufforderung, nicht realitätsblind und -taub, sondern mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen. Vor allem und an erster Stelle durch seine eigene Welt, indem man sich mutig den jeweiligen Herausforderungen des Lebens stellt. Sonst kann Selbstverwirklichung schnell ein Selbstbetrug werden, eine Selbsttäuschung oder eine Lebenslüge. Angefangen bei der Aufarbeitung eigener Kindheitserfahrungen erweist sich Selbstverwirklichung weniger als ein direkt anzustrebendes Ziel. Eher stellt sie sich als eine Folge ein, als eine Nach-Wirkung, als ein "Nebenprodukt" dessen, was das Leben konkret von einem Menschen fordert. Was jedoch zunächst ein Nebenprodukt ist, erweist sich auf der Ebene des Bewusstseins und der Reflektion als Hauptsache: Als das wachsende Ereignis persönlicher Stärke, innerer Kraft und realistisch angemessener Selbstsicherheit.

Was  William Shakespeare als "Reif sein ist alles" proklamiert, hat, wenn man genauer hinschaut, viel mit unserem zweiten Thema zu tun. Was ist "Bildung"? Vom Sprachgebrauch her drängt sich der Zusammenhang mit dem "Bild" auf, mit der Fähigkeit des Menschen, sich ein  „seinsgerechtes“ Bild zu machen über sich selbst, über andere, über den Zustand der Welt. Sofern diese zu lernende Fähigkeit es fertig bringt, sich selbst oder andere weder zu überschätzen noch zu unterschätzen; sich so oder so nichts vorzumachen, nicht zu täuschen oder täuschen zu lassen,  kann der eigene Lebensplan gelingen. Kann er sich als sinnvoll und sinnerfüllend erweisen. Der "Sinn des Lebens" stellt sich sozusagen beim Gehen seines Weges ein.

 

Bildung und Selbstverwirklichung: Nur im Umbruch geschichtlicher Verhältnisse? Oder ist der Mensch immer im Umbruch, weil er zu jeder Zeit seine Bestimmung und Rolle im Leben finden muss? So war jedenfalls die Ich-Existenz im AT immer eine Wir-Existenz, weil eingebettet im Gesamtgefüge des Volkes Gottes. Der Paradies-Zustand war ein gemeinsames Dasein; die Vertreibung aus dem Paradies eine gemeinsame Vertreibung. Seitdem beziehen sich die Unerlöstheit der Menschheit und seine Erlösungsbedürftigkeit  immer auf alle, weil alle in einer Schicksalsgemeinschaft existentiell verbunden sind (Röm. 8.18 ff).
Diese Grundstruktur besteht auch im NT fort. Der Einzelne war und ist eine Bezogenheit auf die anderen. Vom Wohl des Einzelnen hängt bei Paulus das Ganze der Gemeinschaft ab. "Kirche" ist dabei nichts anderes als das mehr oder weniger harmonische Zusammenspiel der einzelnen Gaben und Charismen (1Kor 12-13). Wenn man das Christentum weniger als "Schriftreligion" versteht, viel mehr wie ursprünglich als "Beziehungsreligion" zu einer Person, dann sind die biblischen Bücher nichts anderes als das Ergebnis der Auseinandersetzung der ersten Gemeinden mit dieser Person, die eine Botschaft verkündete und ein Schicksal erlitt. So gestalteten die ersten Gemeinden auch nicht ihre Kraft und ihre Überzeugungsfähigkeit durch "unfehlbares Reden" und Dozieren der wenigen gegenüber den vielen. Sie wuchsen heran und taten sich hervor als Erinnerungs-, Erzähl-, Austausch-, Glaubens-, Hoffnungs-, Lebens- und Mahlgemeinschaften, stets in dem Bewusstsein: Wo ein oder zwei in Seinem Namen versammelt sind, da werden "Kirche" und "Gemeinde" konstituiert.

 

Vom AT und NT her sind Bildung und Selbstverwirklichung bereits unverzichtbar, wenn es um die Ebenbildlichkeit des Menschen, um die Entfaltung seines persönlichen Charismas und um die Lebendigkeit des Glaubens einer Gemeinde geht. Was der Kirche jahrhundertelang aus ideologischen und kirchenpolitischen Gründen wie gesellschaftlichen Rücksichtnahmen abhanden gekommen ist, muss sie spätestens mit Martin Luther und dessen "sola-scriptura-Idee", seit der Aufklärung und dem Auftreten der modernen Humanwissenschaften wieder lernen. Ob sie dazu fähig ist? Was für Demokratien von größter Wichtigkeit ist, nämlich Mehrheiten durch Überzeugungsarbeit gewinnen, ist seit Jahrhunderten für die Kirchen eher gefährlich. Denn was wird aus ihren patriarchalischen Strukturen, wenn plötzlich alle mitreden wollen? Was wird aus der Unfehlbarkeit der theologischen Spezialisten und Lehrämter, wenn die Menschen ihren Glauben plötzlich ganz anders verstehen? Für die bestehenden Ordnungshüter gibt es deshalb nur folgende Perspektiven: Zurück in die Vergangenheit = Erhaltung des "status quo" um jeden Preis = das Zufriedenstellen "mündiger Christen" mit möglichst kleinen Katechismen, weil die "Klugen und Weisen" die großen zum Belehren und Dozieren für sich selbst behalten wollen.

 

Dennoch haben uns demokratische und aufklärerische Entwicklungen in Umbrüche und Umwälzungen gestellt, die man nur mit wichtigen Hinweisen zu erahnen vermag. Fachleute sprechen von Traditionsverlust; Werteunsicherheit und -beliebigkeit; Bindungs- und Zukunftsangst; Staats-, Parteien- und Kirchenverdrossenheit; Individualisierung in allen Lebensbereichen; Bastelbiographie; Anonymität in der Masse; wachsende Verführbarkeit des Menschen durch Parolen und Schlagzeilen; nicht mehr überprüfbare Verlogenheit im Kleinen wie im Großen; Gewissenlosigkeit; opportunistisches Mitläufertum und Karrierestreben. Das Spektrum einer "Gesellschaft in Auflösung", in der Krisen und terroristische Gewalttätigkeiten immer mehr Normalzustände werden statt Ausnahmen zu sein, ist also breit und bedrohlich. Die Gesellschaft versucht ihr "Gleichgewicht" zu wahren bzw. immer wieder herzustellen, indem sie auf die von ihr selbst proklamierten Menschenrechte pocht und neuerdings auch auf Menschenpflichten verweist. Wo und wie finden die Kirchen ihr "Gleichgewicht" und damit ihre Anhängerschaft? Es bestünde die reale Chance, den Wertekatalog des Evangeliums allgemein wieder in die Mitte zu stellen und unten wie oben danach handeln zu lernen. Sicher müssten theologische Summen nach hinten gerückt werden, indem das für alle Verständliche des Evangeliums wieder praktikabler Maßstab wird. Liebgewordene Strukturen und Traditionen müssten auf die Frage hin kritisch untersucht werden, ob sie der Entfaltung des Ursprünglichen dienen oder dessen Verhinderung.

 

Jedenfalls ist es das Gebot der Stunde, möglichst vielen wieder Kompetenzen und Zuständigkeiten zuzugestehen. Wo kirchlich und strukturell den Menschen Gaben und Fähigkeiten aberkannt werden, die ihnen von Gott gegeben sind, da eröffnet sich keine Zukunft mehr. Man könnte sonst mit recht das Klagelied anstimmen, welches Jesus über Jerusalem geweint hat: Wenn du doch rechtzeitig erkannt hättest! Nun ist es vor deinen Augen verborgen... Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben (vgl. Lk 19. 41-44).

Mit diesen Gedanken möchte ich sie zur bevorstehenden Fastenzeit herzlich einladen! Nehmen sie sich Zeit in diesen Wochen die Bibel und den Wertekatalog des Evangeliums neu für sich zu entdecken. Stellen sie das Evangelium, die frohe Botschaft in die Mitte ihres Lebens und finden sie ihr spirituelles Gleichgewicht in ihrem Leben!