Was ist eigentlich „definitiv christlich“?

Bei dieser Frage geht es nicht in erster Linie um Kirche, sondern um das Heil der Welt. Deshalb hat Jesus keinen Mann und keine Frau zu Bischöfen bzw. Priestern geweiht. Er hat viel mehr den Männern und Frauen in seiner Nachfolge die Kraft und Gnade zugesprochen, beim Heilsgeschehen Gottes in der Welt mitzuwirken. Das Hauptgebot ist dabei die Praxis der Liebe. Um diesem Auftrag gerecht zu werden, haben sich in der ersten Zeit die Christen in kleinen Tisch- und Glaubensgemeinschaften zusammengeschlossen. Ihnen ging es stets um die Frage: was müssen wir sein und tun, um dem Anspruch Jesu zum Heil und Frieden in der Welt gerecht zu werden?
Daraus ist das definitiv Katholische geworden. Die Staatskirche wurde ein System nach dem Vorbild königlicher Herrschaftshäuser.
Bei der Frage nach dem definitiv christlichen geht es um die zwölf Apostel als die Vertreter der zwölf Stämme Israels; denn die Botschaft Jesu richtete sich zunächst an das jüdische Volk. Den Aposteln ist es aufgegeben, die Brüder im Glauben und in der Liebe zu stärken (vgl. Lk. 22,32); aber sie haben nicht das Recht und die Vollmacht, die Brüder und Schwestern in Gehorsam und Untertänigkeit zu verpflichten bzw. an sich zu binden.
Das wurde erst möglich mit einer Kirchenverfassung, die sich die Mächtigen und Einflussreichen im Laufe der Geschichte selbst geschaffen haben. Sehr hilfreich dabei waren und sind der hohe Anspruch der griechischen Philosophie und das römische (Kirchen)Recht. Den einfachen Leuten früher, uninformiert und ohne schulische Bildung, blieb nichts anderes übrig, als alles das für wahr zu halten, was sie die Verantwortlichen zu glauben lehrten. Das schon zur Zeit Jesu die „Kleinen und Unmündigen“ den Anforderungen des Evangeliums viel mehr nachzukommen verstanden als die Berufstheologen  (vgl. Lk. 10,21; Mt. 21,16), wurde von diesen in späterer Zeit kaum noch oder immer weniger zur Kenntnis genommen.
Es geht nicht um eine kluge akademische Theologie; nicht um eine wahre dogmatische Lehre und ein unfehlbares Lehramt, sondern um die Praxis der Liebe und Gerechtigkeit; um einen alternativen Lebensstil der Christen gegenüber den „Kindern dieser Welt“, deren Haltungen sind allzu leicht das Egoistische, Herrschaftliche oder Arrogante.
Die Gefahr des selbstsicheren Gebarens wächst am allermeisten in einem zentralistischen, bürokratischen und hierarchischen System, angefangen beim Papst bis zu den Bischöfen und Priestern. Für sie ist der Dienst an der zu erlösenden Welt eine schier unerfüllbare Verpflichtung geworden. Statt die Brüder und Schwestern in ihrem Glauben und ihrer Lebenskompetenz zu stärken; statt das Volk Gottes - Volk Gottes sein zu lassen und es zu eigener Glaubens- bzw. Entscheidungsfreiheit zu ermutigen, haben sie ihren Dienst immer mehr auf die Erhaltung eines theologischen Systems und kirchenrechtlichen Apparates verkehrt. Im Grunde haben die das religiöse Bewusstsein des Volkes im Stich gelassen.
Bei der Frage nach dem definitiv christlichen geht es um die Erinnerung, um das Wachhalten der Worte und Taten Jesu in seiner Zeit und in konkreten Lebenssituationen. Ebenso um den Auftrag und die Rolle der Christen mitten in der Welt und der Geschichte. Denn jeder Mensch in seinem Leben erlebt Ähnliches wie Jesus: Da fällt jemand unter die Räuber; da gehört eine Sünderin gesteinigt; da ist jemand krank und elend; da ist jemand hungrig und durstig; da missachtet jemand die Kinder. Wie Jesus beispielhaft gezeigt hat, wie das Reich Gottes schon jetzt seinen Anfang nehmen kann, so besteht das Christ-sein in nichts anderem als in dem Willen, die Worte und Taten Jesu mitten in der Welt fortzusetzen. Diese werden „Licht der Welt" genannt“, "Sauerteig", Erweise eines neuen gottgewollten Anfangs. Denen, die so dem Beispiel Jesu folgen, wird der Beistand des Geistes verheißen: Ich bin bei Euch bis ans Ende der Tage.

Während in der Zusage Jesu Gottes Geist in den Werken der Barmherzigkeit, der Liebe, der Gerechtigkeit mitten im Alltagsleben gegenwärtig ist, werden im kirchlichen Denken andere Prioritäten gesetzt. Demnach wirkt Gott primär durch kirchliche Kanäle: Durch die Sakramente, durch das Lehramt, durch bevollmächtigte Geweihte. Dadurch schwindet das Bewusstsein, dass Gott ein Gott der ganzen Schöpfung ist. Gottes Wirken wird eingeengt auf kirchliche Kanäle und Strukturen. Menschen können im Endeffekt nur gut sein innerhalb der Kirche. Außerhalb der Kirche also kein Heil müsste man sich fragen!
Es erübrigt sich an dieser Stelle, über die verheerenden Folgen einer Kirchenpolitik zu sprechen, die sich anmaßte, das Wirken Gottes in der ganzen Schöpfung vor allem für sich in Anspruch zu nehmen. Das „neue Volk Gottes“, d. h. die Kirche, hat nicht nur auf den eigenen Anspruch auf Auserwählung und Ausweitung bestanden, sondern auch in der übrigen (religiösen) Welt nicht ernst zu nehmende Abwegigkeiten erkannt. Das heutige gravierende Schisma zwischen Religion und Kultur ist zum großen Teil hausgemacht. Papst Paul VI hat das während seines Pontifikats mehrmals formuliert.
Dagegen hat Paulus bereits in der ganzen Schöpfung eine sehnsüchtige Hoffnung zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes entdeckt (vgl. Röm. 8,18-30). Paulus verkündete den „unbekannten Gott" (Apg. 17,23), der überall gegenwärtig ist und „die Herzen erforscht“. Er spricht vom „Erstgeborenen der ganzen Schöpfung, in dem alles erschaffen wurde..." (vgl. Kol. 1,15f).
Für kirchlich sozialisierte Menschen, die allzu lange auf sich selbst fixiert waren, ist es höchste Zeit, Gott wieder Gott sein zu lassen, der durch Christus alles versöhnen will, was im Himmel und auf Erden ist...(Kol. 1,20). Der Blick muss sich richten auf alles Gute und Böse in der Welt; auf die „heiligen Heiden“ und nachahmenswerten Vorbilder, die es im Christentum, Judentum, Islam, im Buddhismus wie in der übrigen Welt gibt. Wir müssen achten auf die Spuren des schöpferischen Gottes, der dabei ist, Menschen zu erleuchten und die Welt zu erlösen. Uns ist es aufgegeben, den Weizen überall da, wo er sich zeigt, beim Wachstum zu stärken statt sich anzumaßen, das Unkraut ausrotten zu müssen.
Christen haben nach Paulus die „Erstlingsgabe“ erhalten (Röm. 8,23). Ihre erste Aufgabe besteht darin, das Versöhnungswerk Gottes in der Welt voranzutreiben: Durch ein vertrauensvolles Miteinander, durch Taten der Versöhnung und Gerechtigkeit, durch das Ermutigen möglichst vieler Menschen, von ihrer Freiheit, von ihren von Gott gegebenen Gaben, Fähigkeiten, Charismen entschieden Gebrauch zu machen.
Papst Johannes XXIII. es war, der dem definitiv Christlichen mitten im katholisch Verkrusteten wieder zum Durchbruch verhelfen wollte. Leider hat es bisher keinen in diesem Engagement mutigen Nachfolger gegeben. Wenn wir Christen einen Papst sehen wollen, der für die Probleme der heutigen Welt und Kirche bereit steht, sollten wir vermehrt seinen Rat in Anspruch nehmen. Johannes XXIII. war der Papst, der nicht autistisch-kirchlich um sich selber kreiste, der jede konfessionelle Verengung und Kirchenangst, aber auch die Welt überwunden hat. Er konnte es, weil er auch das Gespräch mit andersdenkenden, andersgläubigen oder liberalistisch orientierten Menschen nicht scheute und immer wieder neu suchte. Wie Jesus, der im Blick auf die Realitäten der Welt und des Lebens zu trösten und Mut zu machen verstand: „Habt Mut, bei aller Bedrängnis, ich habe die Welt überwunden." (Joh. 16,33). Mit diesen Gedanken wünsche ich unserer Kolpingfamilie Meidling einen guten Start ins neue Arbeitsjahr!