„Brauchen wir die Kirche?“

 

Unter diesem Titel ist in diesem Jahr ein Buch erschienen, geschrieben vom Präsidenten des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Alois Glück und dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch. Das Resümee: Natürlich brauchen wir die Kirche! Wie könnte es auch anders sein bei denen, die in der Kirche groß geworden und beheimatet sind, denen von Kindheit an ein Zugang zu ihr verschafft wurde. Wenn solche Leute gefragt werden, antworten sie wie die beiden Autoren. Sie finden Begründungen und Argumente genug, um deutlich zu machen, dass wir auf Zukunft hin die Kirche dringend brauchen.

Dabei ist, im Blick auf profane Entwicklungen, zu befürchten, dass die Kirche immer bedeutungsloser wird, sowohl im persönlichen Leben als auch im gesellschaftlichen. Wenn heute junge Leute wie Männer und Frauen unter 60 Jahren gefragt werden, ob sie die Kirche brauchen, sagen die meisten: Wir brauchen sie nicht. Wir leben auch ohne sie ganz gut. Wir vermissen sie nicht! Die Menschen in Europa und Amerika haben sich individualisiert, sich auch im Religiösen auf eigene Füße gestellt. Sie können, sofern sie religiös sind oder  sein wollen, überall  religiöse Anregungen suchen und finden. Im Internet, in  Schriften, in der Literatur, in Medien, in der Musik und Kunst, in der Natur und Wissenschaft . Dazu brauchen sie die Kirche und das Lehramt nicht. Sie begegnen ihnen nur sporadisch bei bestimmten Anlässen, wie Taufen, Hochzeiten, in Krankheits- und Todesfällen, an wichtigen Feiertagen, die keine Arbeitstage sind.

In Zeiten der Krise werden Rettungsversuche und Überlebensstrategien wichtig. Dabei tut die Kirche so, als wäre sie ein und alles, als wäre sie der Angelpunkt für das Wohl und Wehe der Menschheit. Fortlaufend wird über sie geredet, ihre Sakramente und Ämter, ihre Theologie und ihr verfasstes Glaubensbekenntnis. Gott scheint identisch mit der Heils- und Gnadenanstalt Kirche, wobei wiederum umstritten ist, wer sich im eigentlichen Sinne Kirche nennen darf. Heute erweist sich immer mehr die Notwendigkeit zu bedenken, dass nicht die Kirche im Mittelpunkt der Predigt Jesu stand, sondern die religiös suchenden und fragenden Menschen, die es seit seiner Erschaffung bereits gibt. Jesus hat keine Institution  Kirche gegründet, sondern wissenschaftlich betrachtet eine religiöse Bewegung, die auf seinem jüdischen Grund-Verständnis basiert. Einem Verständnis  auf das Jesus mit seiner eigenen Interpretation und dem sich daraus resultierenden neuen Weg antwortet: Jesus hat suchende und fragende Menschen um sich geschart, ihr Leben ernst genommen, ihnen Perspektiven für eine gottgemäße und menschengerechte Lebensweise aufgezeigt und sie beispielhaft eingeführt in Verhaltensweisen, die im Sinne Gottes sind und gleichzeitig dem Heil der Welt dienen. Es war nicht die Masse, die ihm gefolgt ist, sondern wenige Männer und Frauen. Sie waren der Kern einer religiösen Bewegung, die sich im Laufe der Zeit immer mehr organisierte, indem sie Strukturen und Organisationsformen schuf, die dann "Kirche" genannt wurden. Das Zentrale dabei waren Versammlungen von Christen, die in der Nachfolge Christi standen, die betend und Mahl feiernd immer wieder die Worte und Taten Jesu in Erinnerung riefen, um selbst Zeugen des Glaubens dabei zu werden.

Das Werden und Wachsen der Kirche fanden sozusagen in einer zweiten Phase statt, nach dem Tod und der Auferstehung Jesu. Die erste Phase war ganz von der Anwesenheit Jesu und seiner Jünger bestimmt. Die zweite Phase  von Menschen ihrer Zeit, die bewusst oder unbewusst vom Zeitgeist ihrer Epoche geprägt waren. So kam es, dass eine Kirche entstand, die ganz von den gesellschaftlichen Verhältnissen der damaligen Zeit bestimmt war.  Wie konnte es anders sein? Die Kinder der Zeit, die führende gebildete Schicht waren Könige, Fürsten, Adelige. Sie schufen und gestalteten Kirche nach ihrem Geschmack und ihren Voraussetzungen. Wie sie in einer hierarchischen Gesellschaft lebten, so wurde auch die Kirche organisiert: Von oben nach unten, über Papst, Kardinäle, Bischöfe bis zum niederen Klerus. Unten das gehorsame und untertänige Volk. Es hat Jahrhunderte gedauert, dass sich die Menschen in einem solchen Konzept wohl und beheimatet fühlten, zumal sich Kirche und Gesellschaft ähnelten, sich gegenseitig bestärkten und ergänzten.

 

 Die Zeit der Moderne wurde zu einer Zeit der Distanzierung und Entfremdung. Die Demokratisierungsprozesse in den westlichen Ländern haben zum Sturz der früher Herrschenden geführt. Heute rütteln eine ganze Welt und Bevölkerungsmassen an den Festen der Kirche. Im 19. Jahrhundert hat sie die Arbeiterschaft verloren, als zweites die Frauen als erste religiöse Erzieherinnen ihrer Kinder und zu guter Letzt  heute die Kinder und die Jugendlichen!

Was muss noch alles geschehen, damit die frohe Botschaft  wieder auf offene Ohren trifft? Zunächst muss dringend zur Kenntnis genommen werden, dass die Menschen sich mit ihren Fragen, Sorgen, Problemen und Lebensaufgaben ändern. Wenn es kirchlich immer heißt: Die Menschen dort abholen, wo sie stehen, dann können eigentlich immer nur sie selber sagen, wer sie sind, wo sie sind und was mit ihnen los ist. Wie überall die freie Sprache und Meinung gelten, so bedürfen die Menschen auch im Religiösen einer neuen Sprachmächtigkeit, die nicht von obrigkeitlichen Ansprachen und Predigten überdeckt wird, sondern dem Menschen eine Hilfe wird zum eigenverantwortlichen Denken und Handeln. Das bedeutet nicht, den Glauben dem Urteil der Mehrheit zu unterwerfen, sondern den Glauben aus der wissenschaftlichen Tätigkeit herauszulösen und in das Leben zu versetzen: Glaube als Lebensorientierung an dem, der der Ursprung des Glaubens ist.  Theologisch muss zweitens bedacht werden, dass das Wirken des Geistes Gottes im Menschen und in der Schöpfung kein statisches und langweiliges Unternehmen ist, sondern ein dynamisches Geschehen Gottes mit der Welt. Deshalb muss sich Kirche immer wieder neu erfinden, auch um den Preis des Abschiednehmens von dogmatischen und rechtlichen Gewissheiten, die dem persönlichen Bekenntnis und Engagement eher hinderlich als förderlich sind.

Nicht nur das Volk muss sich bekehren, sondern auch Päpste, Bischöfe und Priester. Sie müssen aufhören, sich als "Fürsten" zu benehmen, als Sonderklasse des Heiligen Geistes. In den Umbrüchen der Zeit haben sie sich nicht sonderlich bewährt, zum großen Teil eine armselige Kirche geschaffen und verwaltet. Kardinal Martini hat es kurz vor seinem Tod im Jahr 2012 eindringlich ausgesprochen: "Der Papst und die Bischöfe müssen umkehren". Sie müssen gegenüber dem Volk Vorbereiter und Erneuerer sein. Das was vor 50 Jahren mit dem II. Vatikanischen Konzil so hoffnungsvoll begonnen hat, bietet  jetzt die Chance einen guten Abschluss zu finden: Ein „Aggiornamento“ hat sich Papst Johannes XXIII. gewünscht, als Ausdruck für eine Anpassung der Kirche an die Gegenwart. Der Papst meinte eine „Verheutigung“, ein Auf-den-Tag-bringen des Katholizismus. Um diesen Wunsch zu erfüllen brauchen wir die Kirche. Kirche als lebendiger Leib Christi auf ihrem Weg durch die Zeit. In einer Kirche im Ruhrgebiet hängt ein Kruzifix, das im Krieg zerstört wurde. Der Corpus darauf hat keine Arme. Dort wo die Arme sich befanden steht nun der Spruch: „Ich habe keine Hände, außer die Euren!“  Darum brauchen wir die Kirche als tätige Gemeinschaft der Liebe Gottes  zum handeln in der Welt.